Bergsport-Boom, Herz-Kreislauf-Tod und Klimawandel – was die Statistik wirklich zeigt


Wenn in den Nachrichten zu lesen ist, dass im vergangenen Jahr 309 Menschen in den österreichischen Bergen ums Leben gekommen sind – deutlich mehr als im Vorjahr – dann dauert es meist nicht lange, bis die altbekannten Schuldzuweisungen in den Kommentarspalten auftauchen: Selber schuld! Selbstüberschätzung! Schlechte Ausrüstung! Und wenn’s besonders originell werden soll, gesellt sich gern noch das böse E-Bike oder der „Stadtdepp in Turnschuhen“ dazu. Fertig ist die Stammtischdiagnose.


Doch wer sich die Mühe macht, nicht nur zu urteilen, sondern einmal in die ausführliche Statistik des Kuratoriums für Alpine Sicherheit (Jahresrückblick 2024, veröffentlicht Anfang April) zu schauen, erkennt ein ganz anderes Bild – eines, das mit reißerischen Mutmaßungen wenig zu tun hat. Und eines, das viel über unsere Gesellschaft, den demografischen Wandel und die unterschätzten Folgen des Klimawandels erzählt.


Die Statistik zeigt deutlich: Die überwiegende Mehrzahl der Todesfälle in den Alpen war nicht die Folge von Stürzen, Lawinen oder spektakulären Unfällen, sondern von Herz-Kreislauf-Versagen – medizinischen Notfällen also, meist aus heiterem Himmel. Betroffen sind vor allem Männer über 60, viele davon erfahrene Wanderer, mit angemessener Ausrüstung, aber eben in einem Alter, in dem der Körper nicht mehr alles mitmacht. Nicht aus Leichtsinn, sondern weil das Herz irgendwann nicht mehr mitspielt.


Als jemand, der seit Jahrzehnten in den Bergen unterwegs ist – privat wie beruflich als Wanderführer – beobachte ich seit Jahren, dass der klassische Alpinismus zunehmend von älteren Menschen betrieben wird. Der Bergsport hat sich demokratisiert, ist leistbar geworden, technisch gut ausgestattet, breit zugänglich – und erfreut sich ungebrochener Beliebtheit, gerade bei den sogenannten „Best Agern“. Wandern, Klettersteige, Höhenwege – all das ist für viele Ruheständler das neue Yoga, der neue Sinn fürs Wochenende, für das Leben nach dem Berufsalltag.


Doch in dieser schönen Entwicklung liegt auch ein Risiko. Die Kombination aus höherem Alter, körperlicher Belastung und zunehmend extremeren Wetterbedingungen (Stichwort: Hitze, schwüle Tage, rascher Wetterumschwung) ist ein gefährlicher Mix. Was früher als “gute Kondition” gereicht hat, reicht heute oft nicht mehr aus, wenn der Körper plötzlich unter Hitzestress steht und der Kreislauf kollabiert – nicht selten mitten im Aufstieg oder fernab jeder Hütte.


Auch das ist eine unterschätzte Folge des Klimawandels. Die Zahl der Hitzetage in Österreich steigt, die Sommer in den Bergen werden nicht nur wärmer, sondern auch tückischer. Wer in den frühen Morgenstunden startet, kann sich dennoch am frühen Nachmittag in Temperaturen über 30 Grad wiederfinden – oft mit zu wenig Flüssigkeit, zu schwerem Rucksack und unterschätzter Belastung in der Höhe. Der Körper, noch an die kühlere Morgenluft angepasst, gerät rasch in einen gefährlichen Temperaturstress. Was für Jüngere eine Herausforderung ist, kann für Ältere zur tödlichen Falle werden.


Was mir dabei besonders auffällt: Die öffentliche Wahrnehmung dieser Entwicklung ist erstaunlich oberflächlich. Während sich in den Kommentarspalten des Boulevards reflexhaft über „unvernünftige Bergler“ empört wird, bleibt die eigentliche Erkenntnis auf der Strecke. Es ist einfacher, Einzelne zu verurteilen, als über strukturelle Veränderungen nachzudenken: den Alterungsprozess der Gesellschaft, das sich verändernde Freizeitverhalten, die unterschätzte Gefahr medizinischer Notfälle im Gebirge – und ja, auch die ganz realen Auswirkungen des Klimawandels auf unsere Freizeitgestaltung.


Hier wäre eine andere Berichterstattung gefragt. Nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit Aufklärung. Nicht mit der Mär vom „dummen Wanderer“, sondern mit Fokus auf Prävention: Gesundheitsvorsorge, Tourenplanung, Hitzeschutz, bewusste Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit. Und ja – vielleicht auch mit dem Mut, einmal früher umzudrehen, wenn der Kreislauf zwickt.


Denn die Wahrheit ist: Die Berge sind nicht gefährlicher geworden. Wir sind es – weil wir älter werden, weil wir uns neuen klimatischen Bedingungen stellen müssen, und weil wir lernen müssen, mit diesen Veränderungen umzugehen. Das bedeutet nicht, sich zu fürchten – sondern sich bewusst vorzubereiten. Wer mit 65 noch am Grat steht, ist kein Tollkühner – sondern oft ein Vorbild an Lebensfreude. Aber eben nur dann, wenn er auch erkennt: Der Berg ist nicht schuld, wenn mein Herz nicht mitmacht.


Fazit: Die Frage ist nicht, ob wir noch in die Berge gehen sollen. Die Frage ist, wie wir es tun – mit wachem Blick, mit Respekt vor uns selbst, und mit einem kleinen inneren Warnsystem, das nicht erst dann anspringt, wenn’s zu spät ist.




Quellen & weiterführende Infos:


Kuratorium für Alpine Sicherheit – Jahresrückblick 2024

https://alpinesicherheit.at/wp-content/uploads/2025/04/OeKAS-PA-Jahresrueckblick-2024_korrigiert-2.pdf


Umweltbundesamt Deutschland – Klimaanpassung im Tourismus

https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/479/publikationen/texte_117-2021_folgen_des_klimawandels_fuer_den_tourismus_in_deutschland_0.pdf


Demographische Entwicklung Österreich

https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/demographische-indikatoren-und-tafeln/demographische-zeitreihenindikatoren


ORF-Beitrag auf Facebook mit den teils unterirdischen Kommentaren

https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=pfbid02szjX8Ev3hkSuqQb7qoNpLUNK8y6Nz1iSZrqpDo4xeofkfRTh1pMqzGRx7Cg4mHYUl&id=100064966830771


WHO-Studie zu extremen Temperaturen und Herz-Kreislauf-Sterblichkeit:

Eine Analyse von 43 Millionen Todesfällen aus 27 Ländern zeigt klar: Extreme Hitze (ebenso wie Kälte) erhöht signifikant das Risiko für Herz-Kreislauf-Todesfälle, besonders bei Menschen mit Vorerkrankungen.

https://www.springermedizin.de/herzinsuffizienz/klimawandel/jeder-hundertste-kardiovaskulaere-todesfall-durch-kaelte-oder-hi/24655248


Metaanalyse von 266 internationalen Studien:

Laut Medscape (Zusammenfassung eines umfassenden Reviews): Ein Temperaturanstieg von nur 1°C führt bereits zu einem Anstieg der kardiovaskulären Mortalität um 2,1 %. Besonders gefährdet: Menschen über 65 Jahre.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4911331


Studie des Umweltbundesamts und des Deutschen Wetterdienstes:

Hitzeperioden werden nicht nur häufiger, sondern auch gefährlicher. In Hitzewellen steigt die Sterblichkeit durch koronare Herzkrankheiten um 10–15 %. Ohne Anpassung wird sich diese Sterblichkeit bis zum Ende des Jahrhunderts vervielfachen.

https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/klimawandel-koennte-kuenftig-mehr-hitzetote-fordern



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