Wenn der Apfel nach oben fällt


Warum Diskussionen scheitern, wenn Meinung gegen Fakten gestellt wird


Neulich in einer Facebook-Gruppe zum Thema Klimawandel. Ein sachlich formulierter Blogbeitrag, gut belegt, Studien verlinkt, Zahlen nachvollziehbar. Thema: steigende Unfallzahlen im Hochgebirge und der Zusammenhang mit klimatischen Veränderungen. Die Reaktionen?


Ein Kommentar lautet sinngemäß: „Ziemlich steile These. Klingt für mich weit hergeholt.“

Nicht etwa auf eine schräge Verschwörung, sondern auf einen fundierten, nachvollziehbar belegten Beitrag.

Wenige Tage später, derselbe Nutzer: „Wir leben in einer Zeit der Meinungshoheit. Seit Corona ist ein freier Diskurs kaum mehr möglich.“

Das ist bezeichnend. Und bringt uns mitten hinein in ein größeres Problem – eines, das weit über Facebook hinausreicht.


Meinung ist subjektiv – Wissenschaft ist Methode


Klar, Meinungen sind wichtig. Sie prägen, was wir wählen, wie wir leben und worüber wir uns aufregen. Ohne Meinung gäb’s keine Debatten, keine Demokratie, kein „Was meinst denn Du dazu?“ am Küchentisch.


Aber – und das ist ein großes Aber – Meinung ist kein Erkenntnisinstrument. Sie ist subjektiv, selektiv, launisch. Mal geprägt von Erfahrung, mal von Angst, mal von dem, was Tante Erna gestern beim Kaffee gesagt hat.


Wissenschaft hingegen ist – oder sollte zumindest sein – systematisierte Neugier. Sie stellt Fragen, prüft Behauptungen, zählt nach, misst nach, schaut nochmal hin. Sie ist kein Dogma, kein Machtspiel, sondern ein Werkzeug, um sich in einer ziemlich komplexen Welt zurechtzufinden. Und ja, sie liegt auch mal daneben. Aber sie lernt daraus. Im Gegensatz zu so mancher Telegram-Gruppe.


Wer Meinung und wissenschaftliche Erkenntnis in denselben Topf wirft, der verwechselt Thermometer mit Fiebertraum.


Wissenschaft ist keine Religion. Sie ist auch keine Meinung. Sie ist Methode. Punkt.


Warum Diskussionen oft entgleisen – besonders online


Im digitalen Raum wird’s schnell laut – und laut ist sichtbar. Wer mit einem Link zu einer Studie argumentiert, gilt schnell als Besserwisser. Wer ein „Gefühl“ mit drei Ausrufezeichen postet, bekommt Applaus.


Willkommen im Internet.


Filterblasen tun ihr Übriges. Wer sich lange genug in seiner Meinung sonnt, hält sie irgendwann für die einzig mögliche Realität – selbst wenn die Physik anderer Meinung ist.

Und sobald jemand widerspricht, heißt es: „Zensur!“ – dabei ist Widerspruch schlicht ein Zeichen dafür, dass jemand noch wach ist.


Die Ironie des Framings – wenn Wissenschaft zur Ideologie erklärt wird


Besonders skurril wird’s, wenn ausgerechnet die Vertreter von überprüfbaren Fakten als ideologisch gebrandmarkt werden. Da wird plötzlich von „Klimasekte“, „Impfpropaganda“ oder „grüner Meinungsdiktatur“ gesprochen – als wären Studienergebnisse Glaubensbekenntnisse mit Kerzen und Weihrauch.


Die Ironie daran?

Während Wissenschaft offenlegt, wie sie zu Ergebnissen kommt – inklusive Daten, Methoden, Peer-Review und Fußnoten – kommen die lautesten Gegenstimmen oft mit nichts außer „Ich hab da mal was gelesen…“.


Das ist Framing in Reinform: Man unterstellt dem anderen genau das, was man selbst betreibt – nur lauter und mit mehr Capslock.


Die Klimadebatte – ein Stellvertreter für viele Konflikte


Das Thema Klima ist längst mehr als eine wissenschaftliche Frage. Es ist zum kulturellen Zündstoff geworden, zum ideologischen Spielball.

Der wissenschaftliche Konsens ist glasklar: Klimawandel ist real, menschengemacht und gefährlich.

Aber das passt nicht in jedes Weltbild – also wird’s wegdiskutiert. Mit Bauchgefühl, YouTube-Links und dem beliebten Satz „Ich glaub das einfach nicht.“


Und das ist kein Einzelfall. Wir sehen dasselbe Muster an vielen Fronten:

Bei Corona wurde aus medizinischer Evidenz „Big Pharma“.

Beim Krieg gegen die Ukraine wird „der Westen“ pauschal zur Kriegspartei erklärt.

Und bei Migration, Gender, Ernährung oder Energie reichen Einzelfälle und Stammtischanekdoten, um ganze Faktenlagen in Frage zu stellen.


Immer geht’s darum: persönliche Meinung gegen überprüfbare Erkenntnis.

Und wenn die Meinung plötzlich heiliger wird als jede überprüfbare Beobachtung – dann wird jede Diskussion zur Stolperfalle.

Denn wer nur noch diskutiert, um sich selbst zu bestätigen, führt keine Debatte mehr – der hält Monolog mit Publikum.


Wem nützt das alles?


Man könnte sagen: Das ist halt der Lauf der Dinge. Aber ganz so harmlos ist es nicht.

Die Aushöhlung von Wahrheit ist kein Unfall – sie ist Strategie.

Populistische Akteure, autoritäre Systeme, mediale Empörungsmaschinen – sie alle profitieren davon, wenn Fakten verschwimmen.


Wenn niemand mehr weiß, was stimmt, dann zählt, wer am lautesten brüllt. Wenn alles relativ scheint, gewinnt der, der am meisten Verwirrung stiftet.

Desinformation ist dabei nicht darauf aus, eine neue Wahrheit zu etablieren – sie will nur erreichen, dass wir an gar keine mehr glauben.

Denn wer an nichts mehr glaubt, lässt sich leichter lenken.


Und in sozialen Medien? Da zählt nicht, was belegt ist, sondern was klickt. Die Algorithmen lieben Empörung, Vereinfachung, Polarisierung.

Kurz gesagt: Die Plattformen funktionieren wie ein Glutofen für jede schrille These, Hauptsache sie brennt schnell und lichterloh.


Was tun? Zwischen Meinungsfreiheit und Erkenntnisfähigkeit


Ja, natürlich darf jeder denken, was er will. Auch Unsinn. Auch, dass der Apfel nach oben fällt. Das ist Meinungsfreiheit.

Aber sie schützt nicht davor, dass einem widersprochen wird. Und sie bedeutet nicht, dass alle Meinungen gleichwertig sind.

Es gibt nun mal Meinungen, die lassen sich belegen – und solche, die lassen sich nur glauben. Wer beides gleichsetzt, verliert den Blick für Realität.


Wissenschaft stellt keine endgültigen Wahrheiten her – sie stellt Fragen. Aber sie stellt sie strukturiert, überprüfbar, offen.

Und sie hat einen entscheidenden Vorteil: Sie lässt sich korrigieren. Im Gegensatz zur gefühlten Wahrheit im Freundeskreis.


Was wir brauchen? Eine neue Lust auf Differenzierung. Den Mut, Unschärfen auszuhalten. Die Fähigkeit, Ambivalenz nicht als Schwäche, sondern als Zeichen von Reife zu begreifen.

Und gleichzeitig Klarheit, wo sie notwendig ist. Weil die Welt zwar komplex ist – aber nicht beliebig.


Fazit: Der Apfel fällt – auch wenn’s dem Weltbild widerspricht


Wer glaubt, der Apfel falle nach oben, darf das tun. Nur wird es die Schwerkraft wenig kümmern.

Die Welt richtet sich nicht nach unserer Meinung. Sie funktioniert nach Gesetzmäßigkeiten. Und Wissenschaft macht diese nicht – sie entdeckt sie.

Wer Wissenschaft bekämpft, weil sie unbequem ist, verwechselt Erkenntnis mit Ideologie. Und untergräbt die Grundlage jedes vernünftigen Diskurses.

Am Ende schadet das uns allen.

Denn wenn wir in einer Zeit globaler Krisen lieber an die eigene Wahrheit glauben als an die überprüfbare Wirklichkeit, dann schaffen wir es vielleicht noch, uns gemeinsam zu empören – aber sicher nicht, gemeinsam Lösungen zu finden.


Quellen und weiterführende Lektüre:


*Hans Rosling: “Factfulness” – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist

*Kurt W. Rothschild: „Wirtschaft – wie sie ist und wie sie sein sollte“

*Daniel Kahneman: „Schnelles Denken, langsames Denken“

*Philipp Hübl: „Die aufgeregte Gesellschaft“

*Katharina Nocun & Pia Lamberty: „Fake Facts“

*https://www.spektrum.de

*https://www.climatefactsnow.org




Kommentare